Grundschule digital:
So lernt eine Tablet-Klasse
November 2019: Die Klasse 4c der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Gartenstraße in Hennef (Sieg) hat Besuch. Schulleiterinnen einer Nachbarkommune sind da, um sich den Unterricht von Klassenlehrerin Ulrike Gemein mal aus nächster Nähe anzusehen. Die 4c ist eine der wenigen deutschen Grundschulklassen, die seit dem ersten Schuljahr mit der Unterstützung von Tablets arbeiten. (Text: Stefanie Barthold)
Ulrike Gemein hat ihren Schüler*innen bei der Vorbereitung des Unterrichtsbesuchs freie Hand gelassen. „Macht irgendetwas Digitales zum Thema Märchen“, hat sie ihnen am Vortag als einzige Vorgabe mit auf den Weg gegeben. Das beweist Mut. Und Vertrauen. Das Ergebnis: ein dreieinhalbminütiger Film, eingesprochen in etwas mehr als einer Stunde, aufgenommen mit Greenscreen-Technik; eine Gruppenarbeit von neun Kindern mit allem, was dazugehört — Requisiten, Hintergründe, Dialoge, Handlung. „Zum Glück haben unsere Gäste das fotografiert“, sagt Ulrike Gemein später. „Das hätte ihnen ja sonst keiner geglaubt.“
Kreativ sein. Etwas miteinander gestalten.
Diese Aspekte stehen im Vordergrund, wenn die Grundschullehrerin von den Vorteilen des iPad-Unterrichts spricht. Natürlich spare sie auch Zeit, beispielsweise dadurch, dass die Lern-App automatisch ein Feedback gibt, ob die Rechenaufgabe richtig gelöst wurde oder nicht. „Ich muss nicht selber alles korrigieren, das ist praktisch“, so die Pädagogin. Aber viel wesentlicher als die Zeitersparnis sei, dass die Kinder selbstbewusst und selbstverständlich mit den Geräten arbeiten und sich eigene Gedanken machen, was sich damit Sinnvolles produzieren lässt. So wie beim Greenscreen-Märchen. Oder 2016, als die Erstklässler lernten, Bilderbücher zu vertonen, noch bevor sie überhaupt schreiben konnten. Dass die Kinder dabei schon in jungen Jahren wertvolle Medienkompetenz entwickeln, versteht sich von selbst. Doch die entscheidenden Fähigkeiten, die Tablets im Unterricht besonders gut hervorbringen und fördern können, liegen für Ulrike Gemein im kreativen und sozialen Bereich.
Miteinander und voneinander lernen
Zum Schuljahresstart 2016/17 begann die Kooperation zwischen Cornelsen und der Grundschule in Hennef. Nicht nur die Kinder haben in den vergangenen vier Jahren viel dazugelernt. André Suhr, Produktmanager Grundschule bei Cornelsen, begleitete die Tablet-Klasse von Beginn an. Zwei-, dreimal im Jahr war er zu Hospitationen vor Ort. Im regelmäßigen Austausch mit Ulrike Gemein erfuhr er, mit welchen Verlagsprodukten die Lehrerin gerne arbeiten möchte und womit die Kinder gut zurechtkommen.
„Wir wollen genau verstehen, was die Bedürfnisse sind.“
— André Suhr
Zuerst haben die beiden ein interaktives Übungsportal im Bereich Rechtschreibung aufgesetzt. Das Prinzip: Die Kinder übten online an ihren iPads, im Dashboard erkannte Ulrike Gemein, welche Fortschritte sie machten und in welchen Kompetenzbereichen Probleme auftauchten. Für Cornelsen war das eine erste Möglichkeit, Erfahrungen mit dieser Art von Lernmanagementsystemen zu sammeln. Es wurde deutlich, worauf die Kinder Wert legen und wo sich mögliche Stolperfallen befinden. Der nächste Schritt war die Erprobung des Leseförderungsangebots Leseo. Andre Suhr: „In dem gesamten Prozess ging es uns von Verlagsseite darum, zu lernen. Wir wollen niemanden, der Hurra zu all unseren Angeboten sagt. Wir wollen genau verstehen, was die Bedürfnisse sind.“
Was André Suhr in der Klasse von Ulrike Gemein beobachtete, beeindruckte ihn: „Sie hat ein spezifisches Verständnis davon, was sie mit digitalen Medien erreichen möchte, und hebt sehr stark auf die Kompetenzen des 4K-Modells ab: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken. Man sieht ihrem Unterricht an, dass die Kinder in diesen Bereichen unheimliche Fortschritte gemacht haben. Das lässt sich schwer messen, aber rein intuitiv wird deutlich: Diese Lerngruppe hat anderen Kindern etwas voraus.“ Ob das an den digitalen Hilfsmitteln liegt? Nur teilweise, glaubt André Suhr. Eine solche Entwicklung habe immer auch viel mit der Persönlichkeit der Lehrkraft und der Art ihres Unterrichts zu tun.
iPads für alle: Die Kooperation geht weiter
Ulrike Gemein möchte die sinnvolle Nutzung digitaler Medien in der Grundschule weiter voranbringen und Berührungsängste abbauen. Im Laufe der Jahre sind sie und André Suhr ein erfolgreiches „Forschungsteam“ geworden. Zuletzt widmeten sie sich in einem Workshop einem Prototyp für Kreativtools, mit denen Kinder in der Lage sind, zu den Cornelsen-Lehrwerken kleine Bildgeschichten am iPad zu basteln. „Wir haben immer wieder konkret geschaut, wo in der Praxis der Schuh drückt und wie wir als Verlag bessere Lösungen anbieten können. Ich hoffe, solche hilfreichen User Journeys in den nächsten Jahren weiter austesten zu können“, so André Suhr.
Die Chancen stehen gut — die Kooperation zwischen Schule und Verlag ging im Sommer 2021 in die zweite Runde. Schulinterne Eindrücke haben den Erfolg des Projekts untermauert, sodass einer Fortsetzung nichts im Wege stand. Bereits seit August 2020 lernt wieder eine neue erste Klasse der Grundschule Hennef mit iPads. Klassenlehrerin: Ulrike Gemein.
Für André Suhr war schnell klar, dass die Zusammenarbeit nicht nach vier Jahren beendet sein würde: „Wir haben früh gemerkt, dass wir miteinander gut vorankommen und dass beide Seiten etwas davon haben. Außerdem erfordert es nun mal die Situation, dass wir praktikable Angebote schaffen. Es ist ja nicht so, dass digitale Medien in den Schulen schon flächendeckend eingeführt wären.“ Im letzten Jahr, so Suhr, sei viel Bewegung in die Diskussion gekommen. Stichwort: Corona. Die Nachfrage nach digitalen Materialien schoss im Frühjahr in die Höhe. Aufgabe des Verlages ist es, passende Lösungen bereitzustellen — unter anderem digital verteilbare Arbeitsblätter, interaktive Übungen, Erklärfilme … Ein kontinuierlicher Prozess.
Und noch eine weitere Entwicklung wird aktuell spürbar: Waren digitale Medien noch vor einigen Jahren eher ein Thema für die weiterführenden Schulen, rücken inzwischen auch die Grundschulen stärker in den Fokus. Warum? „Das hat viel mit den Zugangsmöglichkeiten zu tun“, erklärt André Suhr. „Ältere Kinder und Jugendliche haben Erfahrung mit Passwortzugängen, kommen mit einer Tastatur klar, sodass die früheren Lösungen für sie einfach besser funktionierten. Mittlerweile sind wir technisch weiter. Wenn wir kindgemäße, einfache Zugänge zu Lernangeboten schaffen, haben wir gerade in der Grundschule noch mal ein ganz besonderes Potenzial zur Unterstützung von Lernprozessen.“