Warum nicht nach den Sternen greifen?
Gemeinsam mit Freunden Bildungshürden bewältigen
Bildungschancen sind nicht gerecht verteilt. Aber immer wieder gibt es Menschen, die andere zum Lernen ermutigen, sie bestärken und ihnen in den entscheidenden Momenten zur Seite stehen. Es gibt viele Geschichten, die zeigen, wie entscheidend andere Menschen für die eigene Bildungsbiografie sein können. Diese Geschichten sollten erzählt werden, meint der Cornelsen Verlag, der in diesem Jahr sein 75. Jubiläum feiert. Deshalb hatte er dazu eingeladen, die eigene Bildungsgeschichte aufzuschreiben. Viele wunderbare Geschichten haben den Verlag erreicht. Besonders ermutigend ist die von Farzana Haidari, die als junge Mutter nach einer traumatisierenden Flucht nach Deutschland kam — in ein Land, dessen Sprache sie anfangs nicht verstand. Doch sie ging ihren Weg und machte eine bewundernswerte Bildungskarriere, auch weil sie sich auf gute Freundinnen verlassen konnte.
Bereits mit 15 Jahren wird Farzana Haidari verheiratet, ein Jahr später bekommt sie ihr erstes Kind, das zweite mit 19 Jahren. Sie lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt im Süden Afghanistans. Doch als LKW-Fahrer für eine amerikanische Firma lebt er gefährlich. Nachdem er zum zweiten Mal von den Taliban angeschossen wird, entscheidet sich die junge Familie zur Flucht. Und erlebt einen Alptraum: Stundenlange nächtliche Fußmärsche mit zwei kleinen Kindern. Der erste Versuch, das Mittelmeer zu überqueren scheitert, der zweite gelingt — unter unvorstellbaren Strapazen und Todesängsten. Die Familie wird getrennt, Farzana weiß nicht, ob ihr Mann und ihr Sohn noch leben. Endlich das Wiedertreffen in Italien. Nach vielen weiteren Strapazen erreichen sie Deutschland. Wie wird es Farzana und ihrer Familie hier ergehen? Und welche Chancen gibt es für sie selbst? Viele, das weiß sie heute. Aber nur, weil ihr großartige Menschen begegnet sind, die immer wieder gemeinsam mit ihr diese Chancen genutzt haben.
„Gemeinsam mit Nachbarn und Freunden haben wir sozusagen über Nacht einen Plan geschmiedet, wie wir sie begleiten, wir haben organisiert, wer einkauft, wer mit den Kindern spielt, wer ihnen beim Deutschlernen hilft.“
Die junge Familie lebt in Potsdam, als sie die Einladung zu einem interkulturellen Nachbarschaftstreffen bekommt. Damals ahnt Farzana Haidari noch nicht, wie wichtig dieses Treffen für ihren weiteren Lebensweg sein wird. Birgit Girgensohn, die Frau, die alle in der Unterkunft nur liebevoll „Oma“ nennen — eine ehemalige Montessori-Lehrerin — kennt sie bereits. „Sie war immer für uns da und hat uns immer geholfen“, erinnert sich Farzana. Das Problem anfangs: Farzana versteht kein Wort Deutsch. Doch „Oma“ weiß Hilfe und bringt auf diesem Treffen Farzana kurzerhand mit Nadi Towfigh, einer deutsch-iranischen Psychologin zusammen. Denn Nadi Towfigh spricht, ebenso wie Farzana, persisch. Sie übersetzt, hilft über die ersten Hürden und organsiert sofort ein Netzwerk aus Helferinnen und Helfern, als die Familie später von der Kirchengemeinde Asyl bekommt. Denn ihnen droht die Abschiebung.
„Gemeinsam mit Nachbarn und Freunden haben wir sozusagen über Nacht einen Plan geschmiedet, wie wir sie begleiten, wir haben organisiert, wer einkauft, wer mit den Kindern spielt, wer ihnen beim Deutschlernen hilft.“ „Sie ist meine beste Freundin“, erzählt Farzana heute. „Und sie war immer ein Vorbild für mich. Als sie mitbekommen hat, dass mein großer Wunsch ist, Ärztin zu werden, hat sie mich immer in diesem Wunsch bestärkt.“
Doch zunächst muss Farzana Deutsch lernen. Dabei hilft ihr Gudrun Gorka-Reimus. Die ehemalige Sozialarbeiterin und Ausstellungskuratorin unterrichtet zu dieser Zeit ehrenamtlich die Frauen, die wegen fehlender Kinderbetreuung keinen offiziellen Deutschkurs besuchen können. „Sie hat mir sehr viel geholfen — sie ist heute wie ein Teil der Familie“, erzählt Farzana. Neulich erst war Gudrun Gorka-Reimus zum Oma- und Opa-Tag in der Schule von Farzanas Kindern eingeladen.
Ein halbes Jahr lang bleibt die Familie im Kirchen-Asyl, dann bekommt sie eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis und einen sogenannten Konventionspass. Und Farzanas Mann kann — auch dank der Vermittlung von Gudrun Gorka-Reimus — in einem Spielplatzbaubetrieb arbeiten, wo er noch heute als Mitarbeiter sehr geschätzt wird.
„Ich habe gesehen, dass ich hier in Deutschland die Chance habe, meine Schule zu beenden. Und diese Chance habe ich ergriffen. Zunächst wollte ich nur meinen Schulabschluss erreichen. Ich habe noch gar nicht gehofft, irgendwann einmal studieren zu können.“
2014 kann Farzana endlich einen offiziellen Deutschkurs besuchen. Zuvor hat sie schon erste Lernerfahrungen in einer deutschen Schule gemacht, weil Nadi Towfigh an der Montessorischule einen Praktikumsplatz für sie organisiert hat. Ein Jahr später schon besteht Farzana die Prüfung für das Sprachniveau B1. Doch sie will weiterlernen. Wieder helfen die Freundinnen und organisieren einen Platz an der Abendschule. Dort verfolgt Farzana engagiert ihr nächstes Ziel: die Fachoberschulreife. „Ich habe gesehen, dass ich hier in Deutschland die Chance habe, meine Schule zu beenden. Und diese Chance habe ich ergriffen. Zunächst wollte ich nur meinen Schulabschluss erreichen. Ich habe noch gar nicht gehofft, irgendwann einmal studieren zu können.“
Doch schon nach dem ersten Halbjahr der neunten Klasse empfiehlt Nadi Towfigh, direkt in die zehnte Klasse zu wechseln. Die Lehrer stimmen zu, denn Farzana lernt ungeheuer schnell. „Und das hat sie auch geschafft“, erinnert sich Gudrun Gorka-Reimus. „Ich konnte ihr in den Fächern Deutsch, Geschichte und Englisch helfen. Aber im Fach Englisch brauchte sie nur am Anfang Unterstützung. Wir haben dann oft stundenlang in der Küche zusammengesessen. Ich habe viele Bücher angeschleppt — bis mein Mann gesagt hat: ‚Das kann sie gar nicht alles behalten.‘ Und ich dachte: Wahrscheinlich hat er recht und ich habe sie total überfordert. Denn das war ja alles völlig neu für sie: die Befreiungskriege oder Bismarck. Themen, die ich in der Schule bestenfalls langweilig fand. Und dann hat sie die Prüfung mit einer Eins bestanden.“
Jetzt legen die Lehrer Farzana nahe, das Abitur zu machen. Auch ihre Freundinnen überzeugen sie davon. „Damit öffnen sich mehr Türen, haben sie gesagt,“ erinnert sich Farzana. Nadi Towfigh ist noch immer voller Bewunderung für Farzana: „Ich habe gemerkt, was für eine kluge und mutige Frau sie ist. Sie war noch so jung! Mit dieser traumatisierenden Fluchtgeschichte und mit zwei kleinen Kindern in einem fremden Land diesen Weg zu gehen — davor kann ich einfach nur meinen Hut ziehen. Ihr großer Traum war, Medizin zu studieren und dann nach Afghanistan zurückzukehren, um dort den Frauen zu helfen. Weil ihre Männer ihnen nicht erlauben, einen männlichen Arzt aufzusuchen. Und ich dachte nur: Da ist eine junge Frau, schwer traumatisiert durch ihre Fluchtgeschichte und sie schmiedet jetzt solche Pläne. Sie sagt nicht: Welt rette mich! Sondern: Wie kann ich die Welt retten?“
Und Farzana geht ihren Weg weiter, arbeitet an ihrem nächsten Ziel, das Abitur zu machen. „Diese drei Jahre bis zu Farzanas Abitur sind für mich wie im Fluge vergangen“, erzählt Gudrun Gorka-Reimus. „Denn sie hat das meiste selbst auf die Reihe bekommen. Sie hatte sogar Deutsch als Leistungsfach. Und sie hat sich über barocke Lyrik prüfen lassen. Ich selbst bin Lyrik-Fan und habe stapelweise Gedichtbände für sie rausgesucht. Dann habe ich aber auch wieder gedacht: Das ist viel zu viel auf einmal. Aber es hat super geklappt — ich habe immer nur gestaunt.“
Farzana besteht das Abitur mit Bravour, allerdings werden ihr wegen Fehlern in der deutschen Grammatik und Rechtschreibung Punkte abgezogen. Jetzt reicht ihr Durchschnitt nicht mehr für die Zulassung zum Medizinstudium. Nadi Towfigh ist noch heute enttäuscht über diese bürokratische Entscheidung: „Sie hat ein Einser-Abi verdient, aber unser Schulsystem ist leider häufig nicht so flexibel.“
„Es gibt häufig die Tendenz, gerade Menschen wie Farzana einen einfacheren Bildungsweg zu empfehlen“, weiß Nadi Towfigh. „Ich neige aber eher zum Gegenteil, dazu nämlich nach den Sternen zu greifen und zu sagen: Ich glaube an dich.“
Wieder steht Farzana vor einer Entscheidung. Was soll sie nun tun? Und wieder helfen die Freundinnen. Doch zuvor kommen aus dem Bekanntenkreis andere „gute“ Ratschläge. Sie könne doch auch Soziale Arbeit studieren, heißt es da und später noch eine therapeutische Ausbildung machen. Das Psychologiestudium sei doch viel zu schwierig und dauere außerdem so lange.
„Es gibt häufig die Tendenz, gerade Menschen wie Farzana einen einfacheren Bildungsweg zu empfehlen“, weiß Nadi Towfigh. „Ich neige aber eher zum Gegenteil, dazu nämlich nach den Sternen zu greifen und zu sagen: Ich glaube an dich.“
Und diese Sterne sind gar nicht so weit. Katrin Girgensohn, die Tochter von Birgit Girgensohn, ist Professorin. Sie setzt ein Empfehlungsschreiben auf. Nadi Towfigh und Gudrun Gorka-Reimus suchen derweil nach geeigneten Hochschulen und unterstützen Farzana schließlich dabei, sich bei der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU), einer staatlich anerkannten privaten Hochschule in Berlin zu bewerben. Sie wird tatsächlich zum Bewerbungsgespräch eingeladen. „Sie hatten dort sofort einen so guten Eindruck von ihr, dass sie Farzana als Freistudentin aufgenommen haben. Und das hat mich gar nicht gewundert“, sagt Gudrun Gorka-Reimus.
Mittlerweile studiert Farzana im zweiten Semester Psychologie — und sie hat neue Ziele: „Ich möchte später als Therapeutin arbeiten — besonders mit Menschen, die aus meiner Heimat kommen oder meine Sprache sprechen. Es gibt zu wenige Psychologen, die sich mit Krieg oder Gewalt auskennen. Die so etwas wie ich selbst erlebt haben in Afghanistan und auf der Flucht.“
Dass Farzanas Weg so erfolgreich war, liegt auch an all den Menschen, die ihr geholfen haben — ganz besonders an ihren beiden Freundinnen.
Nadi Towfigh weiß, wovon Farzana spricht: „Viele Frauen mit Fluchterfahrungen brauchen auch eine Stärkung in ihrer Rolle als Frau und das geht am besten durch eine Frau mit ähnlichen Erfahrungen. Ich spreche zwar persisch, ich bin aber hier geboren, bin halb persisch, halb deutsch. Sie weiß, wie sich das Leben als Frau in Afghanistan anfühlt. Sie weiß, dass eine Frau dort in der Regel nichts zählt.“ „Ganz wichtig ist, den Menschen, die aus einem anderen Land nach Deutschland kommen, gerade in der ersten Zeit zu helfen“, erklärt Farzana. „Das habe ich selbst erlebt. Und deswegen möchte ich das weitergeben.“
Dass Farzanas Weg so erfolgreich war, liegt auch an all den Menschen, die ihr geholfen haben — ganz besonders an ihren beiden Freundinnen. „Sie waren immer bei mir und haben mir immer Mut gemacht“, sagt Farzana. Aber natürlich hat ihr Erfolg ganz viel mit ihr selbst zu tun. „Wenn man etwas möchte, kann man dafür auch Zeit und Kraft finden und es schaffen. Ich habe immer meine kleinen Sekunden zwischendurch genutzt. Wenn die Kinder schliefen in der Nacht, habe ich versucht, die Sprache zu lernen. Ich war immer mit Lernen beschäftigt, egal wann und wie. Aber ich frage mich jetzt manchmal selbst, wie ich das geschafft habe.“